AUS DER TIEFE_tatort: neapel
Musik von, zu, um und nach Carlo Gesualdo
mit Lynn Tabbert, Cembalo
Ltg.: Friedemann Stolte
Premiere am 30. September 2012 in Herzberg/Elster, mit Konzerten in Chemnitz, Berlin, Braunschweig, Halberstadt, Freiberg, auf Rügen in Vitt und Groß Zicker, in Bautzen, in der Klosterkirche Wechselburg sowie kurz vor Ostern 2014 im Museo Cappella Sansevero Neapel und der Chiesa S.S. Rosario in Gesualdo
Gefördert vom Goethe Institut
Die Musik des neapolitanischen Komponisten Carlo Gesualdo bestimmte den Charakter unseres Programms. Dieser hochgradig sensible komponierende Fürst schuf geniale Werke, deren kühne harmonische Vorgänge damals als ungeheuerlich empfunden wurden – noch heute klingt vieles ausgesprochen modern, sonderbar und leidenschaftlich. Im Laufe des Programms folgten wir Spuren seiner drastischen, expressiven Harmonik bis in die Gegenwart.
Gesualdos Musik wie auch sein Leben sind geprägt von gewaltigen Spannungen, einem endlosen Ringen zwischen den ihm innewohnenden Kräften. Denn CARLO GESUALDO DA VENOSA (1560 – 1613) ist nicht nur für seine chromatische Musik berühmt, sondern ebenso für den beauftragten Ehrenmord an seiner Frau Maria d‘ Avalos und ihrem Liebhaber. Tatort: Neapel
Die Versuchung liegt nahe, diesen Umstand mit seiner unglaublichen Musik in Verbindung zu bringen. Gewiss hat diese Erfahrung seiner Suche nach nie gehörten musikalischen Kontrasten zusätzlich Anlass, Vehemenz und Farbe gegeben. Tatsächlich ist Gesualdo mit seiner Tat offenbar auch nie fertig geworden. Ersehnte Sühne und befreiende Erlösung schienen trotz gerichtlicher Freisprechung unmöglich. Das spiegelt sich in zahllosen Madrigalen, die alle ein sehr zerrissenes Verhältnis zur geliebten, angebeteten Frau beschreiben und das eigene Zugrundegehen an den unlösbaren Beziehungsfragen. Es spiegelt sich ebenso in geistlichen Kompositionen wieder, die in großer Fülle Marienkompositionen in derselben Intention sind.
Auf den Spuren Gesualdos reiste Igor Stravinsky (1882 – 1971) mehrmals nach Venosa und Gesualdo. Er verehrte Gesualdos Musik und orchestrierte einige seiner Madrigale, außerdem ergänzte er drei der unvollständig erhaltenen SACRAE CANTIONES II um fehlende Stimmen. Zwei davon waren zu hören, eines in einer wiederum instrumentierten Fassung mit Cembalo.
In INTERVALLI CHIAROSCURI hat auch Friedemann Stolte (*1966) zwei dieser Sacrae Cantiones II ergänzt. Der Titel bezieht sich auf damals geläufige Ausdrücke: „intervalli lucidi“ meint die lichten Augenblicke, während in „chiaroscuri“, dem gleichzeitigen Helldunkel, eher die Unklarheit und Verworrenheit dieser Musik angesprochen wird. Die einzig erhaltene Altstimme des letzten Werks in Gesualdos 7. Madrigalbuch wird zum Ausgangsmaterial für ein weiteres, vollkommen neues Stück. In ihm schwindet die harmonische Klarheit durch die Verwendung von Mikrointervallen. So verstärkt der Komponist die stark sogartige Wirkung der Vorlage: das Ringen zwischen den allegorischen Figuren des Lebens und des Todes, das Geschehen zwischen dem Gebären einer Sonne und ihrem Tod ist physisch spürbar.
Schließlich gehört zu den INTERVALLI CHIAROSCURI ein Stück für Holz-Percussion: es bezieht sich auf die Legende, dass Gesualdo nach seiner Mordtat den gesamten Wald im Tal hinter seinem Schloss selbst abgeholzt habe – allein in monatelanger Arbeit. Er habe sich von ihm bedroht gefühlt. Das perkussive Element ist ein der Musik Gesualdos völlig entgegengesetztes. Im harmonischen Vakuum eines solchen schlagenden Kontinuums erscheint ein unverbrauchtes, textfreies Medium als modernes Spiegelbild des alten Wahns. Tatort: alte und neue Noten.
Eine andere Art von Spur verfolgt E.T.A. HOFFMANN (1776-1822). In vielen seiner Erzählungen und Märchen beschwört er phantastische, irre Begebenheiten herauf, von denen die teuflischen, die wahnsinnigen, düsteren und verderbenbringenden Personen und Verstrickungen sehr oft mit Italien und besonders mit einem sehr verruchten Neapel zu tun haben. Was gut ist und was böse, was wahnhaft und was normal erscheint, verschwimmt. Tatort: Legenden
E.T.A. Hoffmann komponierte auch, ja er sah seine Berufung anfangs als Musiker und Komponist. Unser hier gesungenes Chorstück – eine Marienkomposition – lebt ebenso von der Spannung aus empfindsamer „Normalität“ und chromatischer Exaltation.
Die vorwiegend vokale Musik Gesualdos wurde kontrastiert und ergänzt durch Cembalomusik der italienischen Renaissance. Im näheren und weiteren Umfeld Gesualdos gab es noch weitere Komponisten, die einen ausgeprägten Hang zu einem chromatischen Kompositionsstil zeigten, wie Mayone oder Luzzaschi. Das ist um so interessanter, als ja stimmungsbedingt auf den Tasteninstrumenten der Zeit klanglich reine Chromatik nur sehr begrenzt möglich war. Dafür wurden sogar völlig neuartige, verrückte Cembali, sogenannte Archicembali gebaut, die mit ihren 19, 36 oder gar 53 (!) Tasten pro Oktave reine Zusammenklänge ermöglichen sollten. Neben einem Werk von Luzzaschi (1545 – 1607), der zu Gesualdos Hochzeit gespielt hatte, präsentierten wir Cembalomusik von Girolamo Frescobaldi (1583 – 1643), einem Schüler Luzzaschi’s, und von Michelangelo Rossi (1602 – 1656), der mit Frescobaldi studierte und dessen Toccata Settima berühmt ist für ihre Ketten chromatischer Terzen. Unser Programm wurde auf der Kopie eines Cembalos von Giacomo Ridolfi, Rom 1682 gespielt.
Carlo Gesualdo
Beltà poi che t’assenti
Chiaro risplender suole
(aus: Sechstes Madrigalbuch, 1611)
Carlo Gesualdo / Friedemann Stolte
INTERVALLI CHIAROSCURI – A GESUALDO (UA)
1. O Beata Mater
2. Ardens est cor meum
(aus: Sacrae Cantiones II (1603) – 2011 vervollständigt von Friedemann Stolte)
Girolamo Frescobaldi
Toccata Prima
(aus: Toccate d’intavolatura di cimbalo et organo – Libro Primo)
Michelangelo Rossi
Partite sopra la Romanesca
Carlo Gesualdo
Deh, come invan sospiro
Io pur respiro in così gran dolore
(aus: Sechstes Madrigalbuch, 1611)
Friedemann Stolte / Carlo Gesualdo
INTERVALLI CHIAROSCURI – A GESUALDO
3. Legno Battuto I
4. Il sol non nato estinse (Chor + Cembalo)
(2011, mit Elementen der einzig erhaltenen Altstimme des Siebten Madrigalbuches, posthum 1626)
Luzzasco Luzzaschi
Toccata
E.T.A. Hoffmann
Salve Regina
Michelangelo Rossi
Toccata Settima
Carlo Gesualdo
Moro, lasso, al mio duolo
(aus: Sechstes Madrigalbuch, 1611)
Friedemann Stolte
INTERVALLI CHIAROSCURI – A GESUALDO
5. Legno Battuto II
Carlo Gesualdo / Igor Stravinsky
Da pacem Domine
Illumina nos
(aus: Tres Sacrae Cantiones (1603) – vervollständigt von Igor Stravinsky)
AUS DER TIEFE_tatort: neapel: Programmheft
BKC_programmheft_tatort_neapel.pdf [365,12 kB]
DAL PROFONDO_SCENA DEL CRIMINE: NAPOLI
il concetto
DAL_PROFONDO-concetto_in_italiano.pdf [26,51 kB]
il programma
DAL_PROFONDO-programma_del_concerto.pdf [40,39 kB]
i musicisti
DAL_PROFONDO-biografie_dei_musicisti.pdf [25,72 kB]
Lynn Tabbert, geboren 1974 in der Nähe Berlins, studierte Klavier bei Peter Rösel sowie Cembalo bei Ludger Rémy und Christine Schornsheim. Kenntnisse auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts sammelte er auch durch seine rege Konzerttätigkeit sowie Kurse bei Barbara Maria Willi und Lars Ulrik Mortensen. Bei Konzert- und Opernprojekten arbeitete er unter anderem mit der Cappella Sagittariana Dresden, der Batzdorfer Hofkapelle und dem Balthasar-Neumann-Ensemble zusammen und wirkte bei Festivalauftritten, Rundfunk- und CD-Produktionen mit. Als versierter Generalbassspieler ist er ein beliebter Kammermusikpartner für Sänger und Instrumentalisten, denen die historisch informierte Interpretation der Barockmusik wichtig ist. Auch als Begleiter bei Kursen und Wettbewerben (z. B. Bach-Archiv Leipzig und Institut für historische Aufführungspraxis Michaelstein) ist Lynn Tabbert gefragt. Seine eigenen Projekte sind häufig mit musikhistorischen Forschungen verbunden. Die Pflege und Auseinandersetzung mit unbekannter Musik des 17. und 18. Jahrhunderts stehen dabei im Vordergrund. Besondere Anerkennung fand seine Wiederentdeckung der Dresdner Ballettoper „Les quatre Saisons“ (Joh. Chr. Schmidt 1719), die als ein herausragender Höhepunkt des Stadtjubiläums 2006 szenisch wiederaufgeführt werden konnte.
Lynn Tabbert arbeitete längere Zeit als Repetitor für modernen und klassischen Tanz an der Palucca Schule Dresden, seit Herbst 2013 an der Folkwang-Universität Essen.
Unser Programm spielt er auf der Kopie eines Cembalos von Giacomo Ridolfi, Rom 1682.